Über Emotionen

Vielen Menschen fällt es schwer, ihre Gefühle mit anderen zu teilen, sich emotional angemessen auszudrücken, ja sogar ihre Gefühle überhaupt zu spüren.

Erschwerend kommt hinzu, dass teilweise auch in unserer Gesellschaft immer noch die Vorstellung vorherrscht, Gefühle seien eher störend bei Entscheidungen und klarem Denken. Frauen und Kinder werden immer noch eher als Vertreter der emotionalen Seite gesehen, Männer seien mehr für das Rationale da. Aus Sicht der modernen Hirnforschung ist das nicht aufrecht zu erhalten.

Zwar gibt es nicht die einheitliche Emotionstheorie, aber schulenübergreifend wird heutzutage die Bedeutung von Emotionen für die wesentlichen Aspekte menschlichen Seins nicht mehr infrage gestellt – und das natürlich unabhängig von Alter und Geschlecht.

Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der die Menge an zu verarbeitender und auszutauschender Information rasant zunimmt. Die Fähigkeit, dazu gehörige Emotionen zu spüren, zu erleben, sie zu identifizieren und zu kommunizieren (unsere emotionale Kompetenz) hält da oft nicht mit.

Über unsere Gefühle erfahren wir, ob unsere angeborenen, existentiell wichtigen Grundbedürfnisse befriedigt werden.

Folgende biologische Grundbedürfnisse sind (n. GRAWE) wissenschaftlich nachgewiesen:

  • das Bedürfnis nach Bindung
  • das Bedürfnis nach Autonomie
  • das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung
  • das Bedürfnis nach Wohlbefinden

Wenn wir unser Interesse auf die Welt ausrichten, die Nähe zu anderen Menschen suchen oder uns zurückziehen, ist dies von Emotionen begleitet.

Wenn unser Verlangen befriedigt wird, wenn wir (wohlwollend) beachtet werden, aber auch wenn wir zurückgewiesen werden, wenn man uns frustriert, geht das nicht ohne Gefühle.

Wenn andere etwas von uns wollen, sie an uns interessiert sind, oder aber durch Aggressionen uns beeinträchtigen, erleben wir emotionale Reaktionen.

Wenn wir uns selbst wahrnehmen, uns gewissermaßen von außen betrachten und unsere Stärken und Schwächen sehen können, löst dies Gefühle bei uns aus.

Auf der anderen Seite lässt sich jede psychische oder psychosomatische Störung auch als emotionale Störung verstehen.

Als Beispiele seien hier stellvertretend die weit verbreiteten Depressionen, die Angststörungen, die Suchterkrankungen, durch Stress ausgelöste Erkrankungen wie Herzinfarkt, Erschöpfungszustände, chronische Schmerzerkrankungen sowie Krankheiten des Verdauungstraktes zu nennen.

Zur Unterscheidung von Affekt, Gefühl und Emotion

Wie erwähnt gibt noch keine allgemeingültige Theorie emotionaler Prozesse. Aktuelle Emotionstheorien bewegen sich von biologisch bis hin zu konstruktivistisch orientierten Ansätzen.

Eine tiefer gehende Erläuterung zu diesem Thema findet sich in dem Bereich für Weiterbildungskandidatinnen und Weiterbildungskandidaten.

Die im Folgenden dargestellte Sichtweise stellt aus meiner Sicht einen Kompromiss dar, der die verschiedenen Ansätze berücksichtigt, aber auch praxisorientiert verständlich bleibt.

Demnach lassen sich unterscheiden:

  • Der Affekt:
    Eine Aktivierung des unwillkürlichen (nicht kontrollierbaren) Nervensystems und Ausschüttung verschiedener Hormone mit spürbaren Zeichen wie Herzklopfen, Erröten, Muskelanspannung, Harndrang etc.
    Hier sind die wahrscheinlich genetisch angelegten Rohentwürfe unserer Gefühle verortet.
  • Das Gefühl:
    Die Eigenwahrnehmung von psychischer und körperlicher Gestimmtheit
    Eine motorische Handlungsbereitschaft mit dem Ziel, unlustvolle Situationen zu verändern oder ihnen zu entkommen oder lustvolle Momente festzuhalten;
    Eine Ausdruckskomponente in der Aktivierung von Mimik Gestik und Körperhaltung

Definition

Affekt: körperliche Reaktion Physiologische Aktivierung des vegetativen und endokrinen Systems
Gefühl: bewusstes Erleben Eigenwahrnehmung von psychischer und körperlicher Gestimmtheit
Emotion: Gesamtgeschehen Körperliche Reaktion und Eigenwahrnehmung

Intrapsychische Aspekte des Emotionalen

Über das emotionale Geschehen wird die aktuelle Situation für die Person erlebbar.

Die Bedeutung des anderen wird erlebt, die eigene Befindlichkeit wahrgenommen und die Beziehung wird eingeschätzt.

Die wahrgenommene Emotion ist mehr als nur eine Reaktion der Person auf äußere Reize. Es erfolgt ein teilweise unbewusster Abgleich mit schon Erlebtem, gleichzeitig laufen Bewertungen und Voraussagen ab. Die Emotion liefert eine Widerspiegelung der Menschen in der Außenwelt im inneren Erleben und eine Einschätzung der Beziehung zwischen ihnen. Über Emotionen sind wir in der Lage, jederzeit unsere Beziehungssituation zu evaluieren.

In der emotionalen Befindlichkeit ist bereits ein Handlungsentwurf zur Bewältigung der Situation enthalten („ich bringe mich in Sicherheit“, „das lasse ich mir nicht gefallen“).

Erleben, Bewerten und Handlungsbereitschaft sind in der Emotion eins.

Man kann ein vergleichbares Repertoire an Grundemotionen in verschiedenen Kulturen annehmen, die Ausformung und der Ausdruck hängen nach neuesten Untersuchungen aber stark von soziokulturellen Faktoren ab.

Folgende Grundemotionen scheinen transkulturell angelegt zu sein (konstruktivistische Sichtweisen nehmen nur Aspekte von angenehm/unangenehm und Spannung/Entspannung an):

  • Freude
  • Trauer/Schmerz
  • Wut/Ärger
  • Ekel
  • Überraschung
  • Furcht/Angst
  • Neugier/Interesse

Gleichzeitig sind dies die wichtigsten beziehungsregulierenden Emotionen.

Das bewusste Erleben der Emotionen bedeutet zugleich das Nachlassen der erlebten Emotion.

D. h. erlebte Emotionen sind von begrenzter Dauer.

Um sich selbst zu fühlen, sich lebendig zu spüren, müssen Emotionen zugelassen, bewusst erlebt werden.

Der Mensch muss dabei akzeptieren, dass die positiven Gefühle nicht festgehalten werden können, darf aber auch hoffen, dass er über negative Gefühle hinwegkommt:

  • Die Wut verraucht
  • Die Angst klingt ab
  • Trauer und Schmerz verringern sich

Im Gegensatz dazu bestehen die verdrängten Emotionen fort, sie halten sich gewissermaßen frisch und können noch nach Jahrzehnten mit unverminderter Heftigkeit hervorbrechen.

Erlebt und abgeklungene Emotionen bleiben jedoch nicht spurenlos, sie hinterlassen physiologische Eindrücke in einem affektiven Gedächtnis, das vor allem die gefühlshafte Tönung von Beziehungen zwischen dem Menschen und den anderen in der Außenwelt speichert. Je früher im Leben die Ereignisse stattgefunden haben, desto eher wird nun die affektive Seite der Situationen, weniger der konkrete Inhalt erinnert.

Die mit der Emotion verknüpfte Handlungsbereitschaft wird geringer, wenn die Emotion erlebt und zum Ausdruck gebracht werden kann. Gerade durch diese Entkoppelung von Ankündigung einer Handlung und ihrer Ausführung wird ein Freiraum für soziales Problemlöseverhalten geschaffen.

Kommunikative Aspekte der Emotion

Indem der Mensch seine Emotionen ausdrückt, richtet er kommunikative Signale an die Umwelt.

Über den emotionalen Ausdruck öffnet sich der Mensch für die Wahrnehmung der Mitmenschen.

Dies geschieht über Mimik, Gestik, stimmliche Interaktion und Körpersprache.

Mitteilungen über die Innenbefindlichkeit der Person bedeuten Handlungsanweisungen für die Außenwelt. Wünsche und Absichten werden deutlich.

Kommunikation von Emotionen ist die Voraussetzung für Verstehen-Können und Verstanden-Werden.

Dies gilt für die Person und die anderen.

Das gilt auch für die intrapsychische Binnenkommunikation: um sich selbst verstehen zu können, muss der Mensch seine eigenen Emotionen differenziert wahrnehmen können.

Verstanden-Werden und Verstehen-Können bilden die Voraussetzung für soziale Beziehungen, für Kontaktaufnahme und den Aufbau der Bindung. Emotionale Störung und Beziehungsstörung sind zwei Seiten des gleichen Geschehens.

Soziale Kontakte und Beziehungen haben den Charakter von Aushandlungsprozessen, d.h. es wird ständig das richtige Maß von Nähe und Distanz, Aktivität oder Passivität ausgehandelt. In den unbemerkt ablaufenden Regulationsprozessen spielen emotionale Minisignale eine wichtige Rolle. Neben dieser unbemerkt und unbewusst ablaufenden Regulation wird Interaktion auch bewusst gesteuert, indem man jemanden „Angst macht, Mut macht, Schuldgefühle macht, Freude macht, jemanden beschämt“. In der Kindererziehung, in der Zweierbeziehung und in sozialen Hierarchien lässt sich das gut beobachten.

Das Zulassen und Erleben eigener Emotionen geben der Person eine Vorstellung der Lebendigkeit, in der sie positive Emotionen genießen kann und negative aushalten muss.

Eine gewohnheitsmäßige Vermeidung und Verdrängung eigener Emotionen reduzieren zwangsläufig das Gefühl des Lebendigen im intrapsychischen und interpersonellen Bereich.

Psychodynamisch handelt es sich meist um den Entzug von Besetzungen, dabei wird die emotionale Bedeutung der Situation reduziert. An die Stelle eines z.B. angstmachenden Erlebens tritt das Gefühl der Nicht-Emotion, die Situation wird als leer, blass fremd, tot erlebt. Manchmal bleibt jedoch die zugehörige körperliche Erregung (z.B. Herzklopfen, Schweißausbruch) erhalten, die aber nun nicht mehr verstehbar ist und somit zum „Symptom“ gerät.

Die sichere und eindeutige Wahrnehmung der eigenen affektiven Verfassung hat eine wichtige Bedeutung für die Binnenkommunikation des Menschen; wenn diese – seine Möglichkeit der Selbstreflexion – eingeschränkt ist, kann er sich selbst nicht richtig verstehen und bleibt in einer teilweisen Selbstentfremdung.

Die Fähigkeit, sich emotional auszudrücken, ist die Voraussetzung dafür, dass die Person sich in ihrer Innenbefindlichkeit und in ihren Handlungsabsichten verständlich machen kann und auf dieser Grundlage soziale Kontakte und emotionale Beziehungen zu gestalten vermag. Wenn diese Fähigkeit eingeschränkt ist, wird es schwierig, Kontakte aufzunehmen, Bindungen einzugehen, Auseinandersetzungen zu führen, also im weitesten Sinne Beziehungen zu regulieren, weil die Person außerstande ist, ihr Gegenüber kommunikativ zu erreichen.

Das Vermögen, die emotionalen Ausdruckssignale der anderen zu verstehen, ist eine weitere wichtige Voraussetzung für das Sich-Wohlfühlen in sozialen Beziehungen. Wo diese Möglichkeit deutlich eingeschränkt ist, erlangt die Person keine Klarheit über die aktuelle Situation und ist z.B. auf Projektionen eigener Empfindungen angewiesen.

Das Erleben und Zum-Ausdruck-Bringen von Emotionen bedeuten für den Menschen zugleich eine Entlastung, die Befreiung von etwas, das nach Ausdruck und Mitteilung drängt. Werden die Emotionen nicht geäußert oder noch nicht einmal selbst wahrgenommen, dann besteht das Risiko, dass sie zu einer intrapsychischen Anspannung führen und damit zu einer dauerhaften physiologischen, vegetativen oder hormonalen Aktivierung, die ihrerseits mit körperlicher Gesundheit nicht vereinbar ist.

Emotionen Auswirkungen auf selbst Auswirkungen auf Beziehungen
Erlebt und ausgedrückt Lebendiges Selbsterleben, Ausdruck von Befindlichkeit, Mitteilung von Wünschen Effektive Beziehungsregulierung
Erlebt aber nicht ausgedrückt Selbst-Zweifel Zurückhaltung von Wünschen Beziehung kompliziert durch indirekte Kommunikation
Undeutlich erlebt und unklar ausgedrückt Unsicheres Selbstverständnis diffus andrängende Wünsche Beziehungsverwirrung und neurotische Beziehungsgestaltung
Nicht erlebt und nicht ausgedrückt Innere Anspannung durch unbewussten Stau von Wünschen fehlende Selbstreflexion Brüchigkeit von Beziehungen oder neurotische Beziehungslosigkeit

Quellen u.a.:

  • FELDMAN BARRETT, L.: Wie Gefühle entstehen. Rowohlt, Hamburg 2023
  • GRAWE, K.: Neuropsychotherapie, Hogrefe, Göttingen 2004
  • KRAUSE, R.: Psychodynamik der Emotionsstörungen. In Scherer, K.R. (Hrsg.): Psychologie der Emotionen. Hogrefe, Göttingen 1990, S. 630-705
  • RUDOLF, R: Psychotherapeutische Medizin. Enke, Stuttgart 1996
  • SOLMS, M.: The Hidden Spring – warum wir fühlen, was wir sind. Klett-Cotta, Stuttgart 2023

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